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Aus der Not politisch aktiv werden

Von Thomas Bragdon / 14. September 2015
picture alliance / dpa | Koen Van Weel

Flüchtlinge sind oft politisch aktiv, meist aus dem tiefen Wunsch nach einem sicheren Wohnort. Ihre politische Aktion sollte auch uns zu mehr Tatkräftigkeit ermutigen.

„Nein! Denn ich lehne die Residenzpflicht ab! Ich bin kein Tier, das im 21. Jahrhundert in einem freien Europa, das die Renaissance hinter sich gelassen hat, eine unsichtbare Kette um den Hals erträgt und sich vorschreiben lässt, wie und wohin es sich bewegen darf.”[1] Mit diesen Worten startete der iranische Flüchtling Arash Dosthossein 2012 im nordrhein-westfälischen Grefrath einen Protest gegen die Residenzpflicht – ein Gesetz, das die Bewegungsfreiheit von Asylbewerbern bis auf die Grenzen des Bundeslandes einschränkt, in dem sie Asyl beantragt haben.

Flucht und Aktion

Die auf Dousthosseins Worte folgenden Protestcamps in Bamberg, Düsseldorf und Berlin mündeten in einem Marsch von etwa siebzig Flüchtlingen durch Deutschland. Von Würzburg aus zogen sie – die Grenzen der Bundesländer illegalerweise überquerend – bis vor das Brandenburger Tor, trafen Bundespolitiker und campierten schließlich bis April 2014 auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Solidarische Bürger unterstützten die Flüchtlinge und demonstrierten mit. Der Flüchtlingsrat Berlin vermittelt zwischen den Flüchtlingen und der Berliner Landesregierung.

In Amsterdam gründeten vor drei Jahren abgewiesene Asylbewerber die Aktionsgruppe We Are Here. Sie hätten die „Bett, Badewanne und Brot“-Regelung in Anspruch nehmen können – eine Regelung, die Obdachlosen und „illegalisierten“ Menschen Recht auf einen Schlafplatz, auf Fürsorge und auf Nahrung bietet – jedoch jeweils nur für eine Nacht. Am nächsten Morgen würden alle wieder auf der Straße stehen.

Die Aktionsgruppe setzt sich für Heime ein, die rund um die Uhr geöffnet haben, damit die Obdachlosen ihr Leben leichter in den Griff bekommen können. Ihre Mitglieder besetzen zusammen mit Hausbesetzern leere Gebäude in Amsterdam und geben ihnen Namen wie Fluchtakademie, Fluchtturm und Fluchtgarage. Ähnlich wie die Oranienplatz-Flüchtlinge zeigen sie uns, wie man aus der Not heraus politisch aktiv werden kann.

„Es gibt nur ein einziges Menschenrecht”

Die Philosophin Hannah Arendt, die in den 1930er und 1940er Jahren vor den Nazis fliehen musste, hat sich auch aus ihrer Fluchterfahrung heraus politisch engagiert. Zur Flucht genötigt, brach sie 1933 ihre Forschung zum Begriff der Liebe bei Augustin ab. Sie widmete anschließend ihr ganzes philosophisches Leben der politischen Tätigkeit. In ihrem 1949 veröffentlichten Aufsatz „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“ schreibt sie, das Recht auf Asyl stelle das einzige wirkliche Menschenrecht dar.[2]

Die niederländische Philosophin Nanda Oudejans, Expertin der Philosophie Arendts, erklärt das Recht auf Asyl als das Recht darauf, überall auf der Welt einen Wohnort finden zu dürfen. Es sei der tiefste Wunsch eines jeden Menschen, einen Ort zu finden, an dem er sich zu Hause fühle, wo er nicht nur überlebe, sondern leben könne. Das Recht auf Asyl verleihe diesem universellen Wunsch des Menschen Ausdruck, und deswegen stelle es das einzige wirkliche Menschenrecht dar, so Oudejans.[3]

So verstanden, fließen alle sonstigen Rechte – das Recht auf Bildung, auf Arbeit, auf soziale Beihilfe – aus diesem einen Menschenrecht und diesem einen tiefen Wunsch. Dementsprechend ist es vor allem der Wunsch nach einem eigenen Wohnort, der zu politischer Tätigkeit motiviert: Flüchtlinge schöpfen aus der Sorge um Geborgenheit Inspiration.

Demonstrieren und Wohnen

Oft werden Flüchtlinge genau dort politisch aktiv, wo sie sich niederlassen. Die Oranienplatz-Flüchtlinge haben dort, wo sie demonstriert haben, in Zelten gewohnt. Die Aktionsgruppe We Are Here organisiert in den besetzten Häusern, in denen sie wohnen, öffentliche Versammlungen.

Viele Flüchtlinge finden sich in Europa zurecht, indem sie auf die Bühne der Öffentlichkeit treten. Selbst wenn sie von der Verwaltung abgewiesen und illegalisiert werden, sind sie in Europa zu Hause, so lange sie im öffentlichen Raum erscheinen. Sie wohnen buchstäblich in der politischen Aktion.

Die prekäre Situation der Flüchtlinge zeigt, dass es nicht selbstverständlich ist, in einer Wohnung oder einem Haus zu wohnen. Viele derjenigen, die das Glück haben, einen europäischen Pass zu besitzen, nehmen aber genau dies als selbstverständlich hin. Wenn sie dann wie in Heidenau in die Öffentlichkeit treten, um auf ihre „Sorge“ um Haus und Hof aufmerksam zu machen, ist ihnen nicht bewusst, dass sie für ihre Lage selbst verantwortlich sind. Sie suchen sich stattdessen Sündenböcke, die Flüchtlinge, und brennen Asylheime ab.

Geflüchtete wie die Oranienplatz-Flüchtlinge und We Are Here sind sich ihrer prekären Lage bewusst und versuchen deshalb, konstruktive Beiträge in öffentlichen Debatten zu leisten. Sie vertreten ihre Interessen, indem sie Lösungen vorschlagen, die gemeinsame Interessen berücksichtigen. Sie thematisieren in der Öffentlichkeit nicht bloß ihr Elend, sondern die Ungerechtigkeit bestimmter Gesetze – wie die der deutschen Residenzpflicht oder der niederländischen „BBB“-Regelung.

Für Hannah Arendt entsteht politische Tätigkeit aus der Initiative, zusammen mit Anderen, die ähnliche Interessen teilen, innerhalb der gesetzlichen Ordnung etwas Neues anzufangen. Flüchtlinge handeln genau so. Auch wir sollten das tun und politisch aktiv werden.

[1] Das Zitat ist aus: Miltiadis Oulios, Blackbox Abschiebung, Geschichten und Bilder von Leuten, die gerne geblieben wären, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2013, p. 352.

[2] Hannah Arendt, „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht,” in: Die Revolution der Menschenrechte, Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Hg. Christoph Menke und Francesca Raimondi, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011, p. 394 – 411.

[3] Nanda Oudejans, “The right to have rights as the right to asylum,” in: Netherlands Journal of Legal Philosophy, Den Haag: Boom Juridische Uitgevers, 2014.

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