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Chance Europa, Zukunft Berlin

Von Jonas Freist-Held / 5. Oktober 2015
Foto: Jonas Freist-Held

Carlos wollte eigentlich Lehrer in Spanien werden. Jahre später, nach einigen Umwegen, ist er kurz davor, Lehrer in Berlin zu werden.

„Warum Berlin?“ frage ich Carlos, der hinter der Theke steht und mir ein Bier zapft. Seit mehr als zweieinhalb Jahren arbeitet er schon in der lateinamerikanischen Bar in Berlin-Mitte. Carlos ist 31 und lebt seit drei Jahren in Berlin.

Aufgewachsen ist er in Aguilar de Campoó, einem kleinen Dorf der autonomen Region Castilla y León im Norden Spaniens. Zum Studieren hat es ihn in das 250 Kilometer entfernte Salamanca, eine der ältesten Universitätsstädte Europas, gezogen.

2007 schloss er sein Soziologiestudium ab, setzte einen Master in Pädagogik drauf und absolvierte den „Curso Adaptación Pedagogica“, ähnlich dem deutschen Referendariat, mit Auszeichnung. Carlos wollte Lehrer für Geschichte und Geographie werden. Nach erfolgreichem Abschluss einer Prüfung der Stadt Madrid, kam er auf eine Warteliste der spanischen Hauptstadt. Seine Verbeamtung als Lehrer stand kurz bevor. Doch dann kam alles anders als gedacht.

Erstmal Warteliste

2008 setzte der spanische Staat die Einstellung neuer Lehrkräfte auf Eis. Die Krise hatte Spanien schwer getroffen, der Staat musste an allen Ecken und Enden sparen. Den Bildungssektor traf es besonders hart. Um die Zeit zu überbrücken, beschloss Carlos, seiner Leidenschaft für Musik nachzugehen. Er begann ein Studium der Musikwissenschaft in La Rioja.

Nach Abschluss des Studiums war er noch immer auf der Warteliste. Carlos zog nach Madrid, hielt sich mit allerlei Nebenjobs und der Unterstützung seiner Eltern über Wasser. Jeden Tag wartete er auf einen Anruf. Doch vergeblich. „Das war hart, eine sehr schwere Zeit für mich“, erinnert er sich. Die gesamte Gesellschaft litt unter dem europäischen Spardiktat.

Am 15. Mai 2011 entstand in Madrid eine der größten Protestbewegungen der jüngeren europäischen Geschichte, 15 M. Millionen von Menschen gingen zeitgleich in mehr als 50 spanischen Städten auf die Straße. Sie protestierten gegen die grassierende Korruption im spanischen Politikapparat, gegen das finanzkapitalistische System und die Banken, die nach dem Platzen der Immobilienblase in Spanien von hunderttausenden Menschen die Rückzahlung von Krediten forderten, die niemand leisten konnte. Zwangsräumungen und Pfändungen waren an der Tagesordnung.

Demonstration der 15M auf der Puerta del Sol im Herzen Madrids, 2011 (Foto Carlos)
Demonstration der 15M auf der Puerta del Sol im Herzen Madrids, 2011 (Foto Carlos)

„Die Menschen in Spanien sind plötzlich alle aufgewacht“, sagt Carlos. „Jeden Tag gab es Demonstrationen.“ Auch Carlos war bei zahlreichen Massenversammlungen und den sogenannten Asambleas dabei. Die Asambleas waren basisdemokratische Versammlungen, bei denen die Menschen ihren Unmut über den spanischen Staat und ihre persönlichen Probleme teilten. Die Solidarität innerhalb der Bevölkerung war enorm. „Wo geholfen werden konnte, wurde geholfen“, erzählt Carlos.

„Das änderte mein Leben total“

Im Juni 2012 ging Carlos langjährige Beziehung mit seiner Freundin zu Ende. Fünf Jahre nach Ende seines ersten Studiums war er noch immer auf der Warteliste, um Lehrer zu werden. „Ich wollte raus“, sagt er. Im August kaufte er sich ein Ticket nach Berlin, Rückflug drei Monate später. „Berlin wollte ich schon immer kennenlernen.“ Er meldete sich zum Deutschkurs an.

„Die ersten Monate waren schwer“, gibt Carlos zu. „Ich hatte keine Arbeit, konnte die Sprache nicht – das hat mir schon sehr zu schaffen gemacht. Aber es war ein Abenteuer.“ Das Rückflugticket ließ er verstreichen. Auf die Frage seiner Familie, wann er denn zurückkomme, antwortete er: „Ich weiß es nicht.“

Im Frühjahr 2013 fand er mit Hilfe des Jobcenters eine Beschäftigung im Trespassers. Mit seinem Chef, einem Guatemalteken, freundete er sich an. „Er half mir, in Deutschland zurechtzukommen“, erzählt Carlos. „Der Winter in Berlin war eine große Herausforderung. Es war kalt und dunkel.“ Hinzu kam die viele Arbeit: 65 Stunden arbeitete er pro Woche im Trespassers, dazu kamen die täglichen Sprachkurse. „Freizeit hatte ich so gut wie keine. Mein Chef war flexibel, aber das Jobcenter nicht.“ Um die Förderung weiterhin zu erhalten, musste er Fortschritte in der Sprachschule nachweisen.

Auch der Kontakt mit Deutschen gestaltete sich schwierig. „Das Leben ist weniger spontan, alles ist organisiert. Man geht nicht einfach mal so um die Ecke ein Bier trinken.“ Die Deutschen seien sehr direkt. Daran musste Carlos sich erst gewöhnen. „Aber das hat auch seine guten Seiten“, findet er heute.

Als Carlos entschied länger in Berlin zu bleiben, hatte er sich zum Ziel gesetzt, Deutsch auf C1-Niveau zu lernen. Mit dem Sprachdiplom wollte er nach Spanien zurückzukehren und als Musiklehrer an einer bilingualen Schule unterrichten. Und auch den Traum Lehrer in Madrid zu werden, gab er noch nicht auf. „Der Spracherwerb kann ein Pluspunkt für die Einstellung als Lehrer sein. Insbesondere Deutsch ist in Spanien sehr gefragt.“ Während der ersten zwei Jahre in Berlin, wartete er sehnlichst auf einen Anruf aus Madrid. Vergeblich.

Im zweiten Jahr zweifelte Carlos an der Sinnhaftigkeit, nach Deutschland gezogen zu sein. Das Ziel, als Lehrer zu arbeiten, war in immer weitere Ferne gerückt. Er wünschte sich mehr Stabilität und auch mal Urlaub. Außer zu Weihnachten war er in den vergangenen drei Jahren nur zwei Mal in Spanien. Aber dann eröffnete sich ihm plötzlich eine neue Möglichkeit: Das Jobcenter wollte ihn als Lehrer in Deutschland einstellen. Voraussetzung: Deutschlevel C2.

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Zu Besuch im Trespassers. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet Carlos in der lateinamerikanischen Bar in Berlin-Mitte.

Ohne Europa wäre das alles nicht passiert

Diesen Herbst beginnt Carlos den Deutschkurs C2. Schon zum nächsten Schuljahr könnte er als Lehrer in Berlin anfangen. Das Jobcenter übersetzt derzeit seine spanischen Zeugnisse. Wie schnell es letztendlich geht, hängt davon ab, ob alles anerkannt wird. Eventuell muss er noch das deutsche Referendariat absolvieren, vielleicht kann er gleich als Aushilfslehrer einsteigen. „Am liebsten würde ich Musik und Erdkunde an einer Berliner Oberschule unterrichten“, sagt Carlos.

„Dass ich eines Tages in Deutschland als Lehrer arbeiten würde, hätte ich mir nicht vorstellen können“, grinst Carlos. Heute macht er einen ausgeglichenen, einen glücklichen Eindruck. Nach drei Jahren ist er mit Kopf und Herz in Berlin angekommen, hat viele Freunde gefunden. Und er hat eine neue Freundin: Sie ist Griechin. Ob es da zu politischen Diskussionen über die EU kommt, will ich wissen.

Er lacht: „Meine Freundin diskutiert leider nicht so gerne wie ich über Politik. Aber ohne die EU stünden wir heute in unserem Leben nicht da, wo wir sind.“ Er sei gerne Europäer. „Das Konstrukt der Europäischen Union ist einzigartig und etwas Besonderes. Aber mit der politischen Ideologie, die in Europa derzeit dominiert, stimme ich nicht überein.“

Auf der Warteliste in Spanien steht Carlos noch heute. Aber das ist ihm egal. Seine persönliche Zukunft sieht er in Deutschland. „Berlin“, sagt er und blickt vom Zapfhahn auf, „Berlin hat doch weltweit den Ruf als Stadt der Freiheit, wo alles Verrückte möglich ist.“ Deswegen Berlin.

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