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Nichts sehen, nichts hören, nichts machen

Von Alicia Honé / 28. April 2016
picture alliance / Westend61 | Anna Huber

Seitdem das EU-Türkei-Abkommen über die Verteilung der Flüchtlinge in Kraft getreten ist, erreichen immer weniger Geflüchtete Deutschland. Eine langfristige europäische Lösung ist jedoch nicht in Sicht, die EU-Staaten schotten sich weiter ab. Diese Haltung dürfte bald noch problematischer werden.

Im vergangenen Jahr hat sich deutlich gezeigt, dass die europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik nicht mehr staatlich getrennt voneinander betrachtet werden kann. Trotzdem wollen viele Länder eine größere Souveränität bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Mit dem Mitte März in Kraft getretenen Abkommen zwischen der EU und der Türkei scheint die Lösung der Flüchtlingskrise zur Aufgabe weniger Länder an den Außengrenzen Europas zu werden.

Nationale Abschottung statt gemeinsamer Lösungsstrategie

Die EU-Staaten haben sich bisher nicht einmal über die Verteilung der aus der Türkei aufzunehmenden 72.000 syrischen Flüchtlinge verständigen können. Eine gemeinsame Lösungsstrategie scheint mehr denn je in weite Ferne zu rücken, wenn sich die EU-Staaten weiterhin nicht auf eine stärkere Europäisierung des Asylrechts einigen können, wie sie jüngst erneut von der EU-Kommission gefordert wurde.1

Die Europäische Union erinnert in ihrer Reaktion auf die Flüchtlingskrise an die drei Affen, die durch den Instant-Messaging-Dienst WhatsApp eine große Bekanntheit erlangt haben. Ursprünglich aus dem Japanischen und dort ein Symbol für „den vorbildlichen Umgang mit Schlechtem“, haben die Affen, die sich wahlweise Augen, Ohren oder Mund zuhalten, eine eher negative Konnotation: „Ich sehe nichts, höre nichts und sage nichts“, halte mich also aus allem fein raus und lasse andere machen.

Mit Blick auf mögliche Entwicklungsszenarien der weltweiten Migrations- und Fluchtbewegungen wird diese Haltung für die EU nicht lange von großem Nutzen sein.

Denn sicher ist, dass Migration auch weiterhin ein bedeutsames globales Phänomen bleiben und zukünftig sogar weiter zunehmen wird. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge gibt es weltweit mehr als 230 Millionen Menschen, die außerhalb ihres Geburtslandes leben.2

Etwa 60 Millionen Menschen verlassen nicht freiwillig ihr Land, so viele wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Forscher gehen davon aus, dass die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2025 mehr als acht Milliarden Menschen betragen könnte. 2050 könnte die Zahl sogar bereits bei 9,6 Milliarden Menschen liegen. Dieser starke Anstieg wird fast ausschließlich über das Wachstum der Bevölkerung in den weniger entwickelten Ländern verursacht werden.3 Schon jetzt herrscht in vielen dieser Länder Lebensmittelknappheit, die durch die Desertifikation weiter steigen dürfte. Neben Kriegen und Konflikten sind klimatische Gründe oft Ursache von Migration.

Klima als Fluchtursache

Über das genaue Ausmaß der künftigen Umweltveränderungen und der daraus resultierenden Migrations- und Fluchtbewegungen sind sich die Migrationsforscher noch sehr uneinig – Schätzungen der UN zufolge könnte die Zahl der sogenannten Klima-Flüchtlinge bis zum Jahr 2050 auf mehr als 150 Millionen Menschen steigen.4

„Umweltbedingte Krisen verschlechtern zumeist ohnehin prekäre ökonomische Grundlagen […] und treten zugleich häufig als kulturelle Krisen auf, werden nicht selten politisch instrumentalisiert oder führen zu politischen Konflikten, die wiederum Migration forcieren“, erklärt Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück.5 Klimatische Veränderungen dürften also auch in Zukunft genau jene Konflikte befördern, die derzeit zu den hohen Flüchtlingszahlen beitragen.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller betonte, ohne eine „neue Dimension der Entwicklungszusammenarbeit“ und stärkere Investitionen in die Bekämpfung von Fluchtursachen werde auf Europa noch eine ganz andere Entwicklung der Flüchtlingszahlen zukommen.

„Wir haben unseren Wohlstand auf dem Rücken der Entwicklungsländer aufgebaut. Diese Spannungen entladen sich“, sagte Müller in einem Interview. Die größten Fluchtbewegungen stünden erst noch bevor, da sich die Bevölkerung in Afrika in den kommenden Jahrzehnten verdoppeln werde.6

EU-Einigung als notwendige Basis für eine globale Zusammenarbeit

Derzeit befindet sich die EU also noch in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Migration und Flucht dürften sie zukünftig noch weitaus stärker beeinflussen als jetzt. Länderübergreifende Zusammenschlüsse und Verträge werden wichtiger, wenn nicht mehr „nur“ das Finden einer europäischen Lösung für die Probleme ansteht, sondern globale Strategien notwendig werden.

Im Angesicht dieser zu erwartenden Entwicklungen scheint eine gemeinsame Lösungsfindung innerhalb der 28 EU-Staaten beinahe wie ein Kinderspiel – ein verdammt ernstes Kinderspiel. Ein erster zumindest ansatzweise solidarischer Ansatz zum Umgang mit dem Leid der Geflüchteten wäre ein notwendiger Schritt in die richtige Richtung.

1 http://www.sueddeutsche.de/news/politik/migration-eu-kommission-fuer-radikale-europaeisierung-des-asylrechts-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160405-99-460860

2 http://www.sueddeutsche.de/politik/bericht-der-vereinten-nationen-zahl-der-migranten-so-hoch-wie-nie-1.1768954

3 http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/168592/anstieg-der-weltbevoelkerungv

4 http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/168596/umweltveraenderungen

5 http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/168596/umweltveraenderungen

6 http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-01/globalisierung-gerd-mueller-europa-flucht-verantwortlich

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