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Nichts hat sich verändert

Von Björn Uhlig / 19. Juli 2016
picture alliance / Olaf Schülke | Olaf Schülke

„Wir sind das Volk!“ – Die Slogans der friedlichen Revolution kehren heute unter umgekehrtem Vorzeichen wieder. Eine wirkliche Gemeinschaft zwischen Ost und West gibt es nicht. Das liegt unter anderem an der fortlebenden Mentalität der Diktatur im Osten, wo eine demokratische Gesinnung kaum gegeben ist.

Die Mauer fiel, als ich sieben Jahre alt war. Ein Jahr später bekamen wir ein neues Land, aber bis heute sind im Osten viele Menschen nicht im Deutschland der Gegenwart angekommen. 25 Jahre später erstarken nationalistische und populistische Bewegungen. Vor allem im Osten berufen sie sich erfolgreich auf die Slogans der friedlichen Revolution von 1989. Mit der Wiedervereinigung kamen zwar neue Pässe, nicht aber das Gefühl, zu einer neuen Gemeinschaft zu gehören.

Mein Vater meint, „nichts hat sich verändert“ mit dem Mauerfall. Die teils dramatischen Entwicklungen der vergangenen Jahre spiegeln sich in der Gefühlswelt der Elterngeneration überhaupt nicht wider. Im Pass steht, sie seien Demokraten, emotional befinden sie sich in der Diktatur.

Die Parteien kommen nicht an die Ostmentalität heran

Wer verstehen will, warum die (Ost-)Wähler in Scharen vor den etablierten Parteien weglaufen, darf nicht vergessen, dass sie die autoritäre DDR erlebt haben. Diese Erfahrung übertragen sie unisono auf das Deutschland im Jahr 2016. Das ist hochproblematisch, denn Frustrierte und Unzufriedene, die emotional keinen Unterschied zwischen SED-Staat und parlamentarischer Demokratie zulassen, können nicht mit vernünftigen Argumenten „abgeholt“ werden. Die etablierten Parteien können nicht viel ausrichten, denn sie verfehlen fast zwangsläufig die Gefühlslage eben jener Unzufriedenen um Längen. Denn diese Gefühlslage, die Ostmentalität, speist sich aus der Erfahrung der Diktatur.

Die Vergangenheit ist das Erste und Wichtigste, um sich im Hier und Jetzt zurechtzufinden. Im Osten ist die deutsche Vergangenheitserzählung sehr stark umkämpft. Stellt man die Gretchenfrage zur DDR, stößt man sich den Kopf an der SED-Diktatur, an Ostnostalgie oder Westassimilation. Kein Weg, der dazwischen hindurchführt. Aber nicht erst seit dem Mauerfall ist der Osten mental anders aufgestellt als der Westen: Die älteren Ostdeutschen wollen die Diktatur zwar nicht Diktatur nennen, aber sie haben sie erlebt und sie erinnern sich gut. Diese Erfahrung wirkt nach.

Rückzug ins Private

Die Ostmentalität ist nichts anderes als der einstudierte Rückzug ins Private. Gerade deshalb handeln die Geschichten von früher oft nur von Familie, Freundschaften und Beziehungen. Je für sich voller dramatischer Bezugspunkte, bleiben sie doch Privaterfahrungen und sind als solche banal.

Die Wiedervereinigung hat Deutschland politisch geeint, aber eine gefühlte Teilung bleibt bestehen. Im Kern durchlebt man im Osten immer wieder das Dilemma der geteilten Identität: Welchem Deutschland soll man sich heute gemein fühlen? Es gibt mindestens zwei.

Da gibt es die westdeutsche Vergangenheit. Es gibt die Wiederbewaffnung, die Naziprozesse. Es gibt Fußballweltmeisterschaften und die Ostpolitik. Es gibt die RAF und die 68er. Politisch zeigte sich das starke Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung darüber, was für ein Land Deutschland sein sollte. Diese Vergangenheit ist konfliktbeladen, aber lebendig.

Daneben steht die ostdeutsche Vergangenheit. Aber welche historischen Landmarken beschreiben die DDR? Was macht die ostdeutsche Geschichte zu einer gelebten und gefühlten Vergangenheit?

Für die Jüngeren unter uns ist es die verklärte Kindheitserinnerung. Als Kind spiele ich im Garten meiner Berliner Großmutter. Wir sind so nah am Schönefelder Flughafen, dass die Flugzeuge direkt über die kleine Laube donnern. Jedes Mal hebt mein Onkel den Kopf und sagt „Unsere!“ oder „Nicht unsere!“. Unsere Flugzeuge sind blau, die anderen rot. Für die Jüngeren reichten Kindheit, Trabi und Fernsehturm gerade aus, um damit im heutigen Deutschland anzukommen. Diese Generation erlebte beide Seiten. Für die später Geborenen gibt es keine Ostkindheit. Für sie steht der Fernsehturm in Berlin und nicht im Osten. Die Älteren hatten bereits ein Leben hinter sich, als die Mauer fiel. Der Mauerbau selbst bot Raum für nur eine Haltung: Dagegen sein. Entidentifizierung. Rückzug ins Private.

Eine in Beton gegossene Farce

Hätte es doch eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit auch im Osten gegeben. Die Fragen der 68er an die alte Generation sind im Osten aber nie gestellt worden. Stattdessen gab es die schizophrene Staatsdoktrin der DDR, den Faschismus besiegt zu haben, um ihn in Gestalt des Klassenfeindes immer wieder neu zu besiegen.

Das öffentliche Leben der DDR mutet rückblickend an wie eine in Beton gegossene Farce, die eine Reaktion auf den Nationalsozialismus darstellte. Die Bürger der DDR hatten zwar die Pässe dieses Staats, aber Bürger waren sie nicht. Als Untertanen lebten sie in den Nischen des Staats. Dieser blieb nur eine offizielle Fassade, in deren Schatten das Leben inoffizielle Blüten trieb.

Deshalb funktionieren die Slogans der friedlichen Revolution heutzutage im Osten unter umgekehrten Vorzeichen. Die passive Wahrnehmung des DDR-Staats als unveränderbarer monolithischer Block wird auf das heutige Deutschland übertragen. Das Gefühl, welches diese Leute an die Wahlurnen treibt, ist das gleiche, das sie 1989 aus der ostdeutschen Nachbarschaftsidylle ausbrechen lies. Die verstümmelte Identität der DDR-Bürger ist aber nie zur demokratischen Gesinnung erwachsen. Das politische Leben in Deutschland nach 1990, es ist für viele nur eine immer gleiche offizielle Fassade. Ganz wie früher. Im Schatten blüht bis heute das alte, unheimliche Gemeinschaftsgefühl.

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