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ProEinigkeit und Recht und Freiheit

Von Marlene Thiele / 18. Juli 2016

Eine säkulare, demokratische Politik, die individuelle Freiheit und Toleranz bestimmen das Miteinander in Deutschland laut dem Grundgesetz. Die Regeln verschiedener Kulturen können nicht immer gleichzeitig gelten, daher sollte diese „deutsche Leitkultur“ als maßgebend festgelegt werden.

Knapp zwei Millionen Zuwanderer sind 2015 nach Deutschland gekommen. Das hat unter anderem dazu geführt, dass eine zentrale Frage des deutschen Selbstverständnisses wieder aufgerufen worden ist: Gibt es eine „deutsche Leitkultur“, zu der man Migranten verpflichten sollte? Einige Konservative halten das für eine gute Integrationsmaßnahme, während deren Gegner den Vorstoß scharf verurteilen: Statt Integration sehen sie darin eine gesetzlich verankerte Ausgrenzung.

Dabei erscheint die näher definierte deutsche Leitkultur denkbar harmlos: Wichtig sei vor allem die Demokratie. Als Grundlage für die Gesellschaft und das deutsche Rechtssystem gelte außerdem die Würde, Freiheit und Gleichberechtigung jedes Einzelnen. Schwächere würden unterstützt, außerdem sollten die „christlich-jüdisch-abendländischen“ Werte des Landes akzeptiert und geachtet werden. Und: Jeder müsse sich an das deutsche Recht halten. Die Scharia gelte hier nicht.

Integrieren kann sich nur, wer gegenüber der neuen Kultur aufgeschlossen ist

Das ist alles ziemlich selbstverständlich. Natürlich gelten in Deutschland deutsche Gesetze und natürlich gelingt die Integration nur denen, die gegenüber der neuen Kultur aufgeschlossen sind. Dennoch stoßen sich immer wieder Politiker an dem Begriff der deutschen Leitkultur, seit er 1998 zum ersten Mal verwendet wurde. Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi bezeichnete damals mit dem Begriff der „europäischen Leitkultur“ den Wertekonsens auf dem europäischen Kontinent. In der westlichen Kultur gilt die Vernunft vor religiöser Offenbarung. Die Demokratie als politisches System ist von der Religion getrennt. Die Ausübung jeder beliebigen Religion steht jedoch allen frei, das gehört zur Toleranz, ebenso wie die Gleichberechtigung der Geschlechter oder die Freiheit sexueller Neigungen.

Ein Wegweiser für das Zusammenleben

In Bezug auf die Integration in Deutschland kam der Begriff der deutschen Leitkultur auf. Die Werte sind die gleichen wie auf europäischer Ebene, nur klingt es nicht, als würde man hierzulande die Regeln für den gesamten Kontinent festlegen. Im Jahr 2000 fand der Begriff schließlich Einzug in die politische Debatte: Der CDU-Politiker Friedrich Merz propagierte die „deutsche Leitkultur“ als Ideal gegenüber dem Multikulturalismus, womit er der Leitkultur ihre negative Konnotation gab. Die Debatte versandete zunächst im Protest, wurde 2005 vom damals frisch gewählten Bundestagspräsidenten Norbert Lammert noch einmal angestoßen und versandete wieder.

Es liegt wohl am Wort selbst: Leitkultur – das klingt nach anleiten, voranschreiten, regieren, als sei eine Kultur besser als die anderen. Dabei geht es nur um einen Wegweiser für das Zusammenleben von allen.

Wegweiser gibt es bereits. Längst werden in der gesamten Bundesrepublik Broschüren verteilt, die über Freiheiten in Deutschland informieren, über richtiges Verhalten in der Öffentlichkeit aufklären und erzählen, wie Umweltschutz hierzulande funktioniert. Den „RefugeeGuide“ zum Beispiel gibt es in 17 verschiedenen Sprachen: „deutsche Leitkultur“ für die Hosentasche. Ob sie auch in die Verfassung gehört, ist eine andere Frage. Dass sie existiert, daran besteht jedoch kein Zweifel.

Die Regeln verschiedener Kulturen können nicht immer gleichzeitig gelten

Deswegen ist das Wort nun auch wieder auf dem politische Parkett. Innenminister Thomas de Maizière befürworte eine deutsche Leitkultur, da seiner Meinung nach Integration nur gelingen kann, wenn neben einer Willkommenskultur auch eine Anerkennungskultur herrsche.

Auch Norbert Lammert äußert sich noch einmal in der Debatte. Eine „deutsche Leitkultur“ solle kein Werturteil sein, sondern sei notwendig, weil die Regeln verschiedener Kulturen nicht immer gleichzeitig gelten könnten. „Der Anspruch zum Beispiel auf Vorrang des Mannes gegenüber der Frau ist mit dem Anspruch der Gleichberechtigung der Frau offensichtlich in ein und derselben Gesellschaft nicht zu vereinbaren. Der Anspruch auf Freiheit von Glaubensausübung – einschließlich der Freiheit, den Glauben zu wechseln oder aufzugeben – ist mit der gegenteiligen kulturell gewachsenen und begründeten Auffassung, der Abfall vom Glauben sei ein strafwürdiges Verbrechen, ganz offenkundig unvereinbar“, so Lammert.

Insgesamt verpflichtet die „deutsche Leitkultur“ also keineswegs dazu, die eigene Kultur durch Osterfest und Schweinebraten zu ersetzen. Migranten sollen sich dieser Traditionen lediglich bewusst werden und sie akzeptieren. Im Grunde ist es so wie in den USA, dem Paradebeispiel für kulturelle Vielfalt. Während da alle unabhängig von ihrer Herkunft nach „life, liberty and the pursuit of happiness“ streben, sollte sich in Deutschland jeder zu „Einigkeit und Recht und Freiheit“ bekennen. Eine solche Leitkultur diskriminiert niemanden. Sie ist lediglich eine Orientierungshilfe, um Migranten zu zeigen, wie wir in Deutschland leben. Und um sie herzlich einzuladen, an diesem Leben teilzuhaben.

 

Lies weiter bei…

Debatte | Der Musterimmigrant in Lederhosen

Contra | Die Mär von der deutschen Leitkultur



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