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Ein Kibbuz im Schwabenland

Von Isabel Stettin / 11. August 2016
Credits: Schloss Tempelhof;

Das schwäbische Schloss Tempelhof ist kein gewöhnliches Dorf, sondern ein soziales Experiment: Seine 140 Bewohner leben in einer ökonomischen, ökologischen und sozialen Gemeinschaft zusammen.

Ein Händedruck wandert von Bewohner zu Bewohner. Zehn Minuten Stille. Für Außenstehende mögen sie seltsam wirken, doch Rituale wie der tägliche Morgenkreis gehören zum Alltag im Schloss Tempelhof in Schwaben. Die Bewohner kennen die Vorurteile, antworten gewohnt, sie seien keine Sekte. Theoretische Glaubensvorgaben sind Fehlanzeige, es gibt keine geistigen oder politischen Dogmen.

Die Tempelhofer wollen unterschiedliche spirituelle Traditionen zusammenbringen, offen sein für alle Glaubensrichtungen. Praktisch alle sind in der schwäbischen Dorfgemeinschaft vertreten, Christen, Buddhisten, Hindus, Atheisten. Die Gemeinschaft hat sich auf gewisse Spielregeln geeinigt. Auf der Webseite heißt es: „Wir beabsichtigen, dass jeder Mensch dem spirituellen und kulturellen Weg, der ihm ganz persönlich entspricht, nachgehen kann und unterstützen uns gegenseitig in diesem Vorhaben.“

Die 140 Tempelhofer leben auf engem Raum vor, wie eine Gesellschaft in all ihrer Vielfalt, ihren Gegensätzen und Konflikten harmonisch den Alltag gestalten kann. Tempelhof ist ein Experimentierfeld, sozialgerecht, aber nicht religiös ausgerichtet. Die Prinzipien: soziales Bewusstsein, solidarisches Wirtschaften, eine nachhaltige Lebensweise. „Die Welt ist wandelbar. Dazu braucht es den Wandel in uns“, lautet das Motto.

Ein neues Dorf

Die Idee zu dieser besonderen Zusammenkunft kam vor sechs Jahren auf, als sich eine Gruppe von Großstädtern in der Initiative In Gemeinschaft leben zusammenschloss, darunter die heutigen Tempelhof-Bewohner Agnes Schuster, Sozialpädagogin, Roman Huber, Bundesvorstand des Vereins Mehr Demokratie und der ehemalige Bauunternehmer und Philosoph Wolfgang Sechser. Sie suchten erfolglos nach einem Grundstück für ein alternatives Wohnprojekt in der Nähe von München.

Schließlich googelte Sechser halb aus Spaß, halb aus Verzweiflung „Dorf kaufen“ – und fand Schloss Tempelhof, ein 30 Hektar großes Gelände bei Schwäbisch Hall. Früher beherbergte das Gehöft ein Kinderheim, später betreute die Diakonie dort Menschen mit Behinderungen. Nach deren Auszug standen die Gebäude aus dem 17. Jahrhundert leer. 2010 kauften die Münchner das heruntergekommene Anwesen für 1,5 Millionen Euro.

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Gearbeitet wird gemeinsam. (Foto: Schloss Tempelhof)

Aufnahmeprozess schwierig

„Wir wollen uns nicht isolieren“, sagt Wolfgang Sechser. „Wir wollen uns nicht selbst genügen, sondern experimentieren, entwickeln und weitergeben.“ Das Konzept solle andere anregen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und es zu verändern. „Nur so wird sich die Welt nachhaltig gestalten lassen.“

Der Tempelhof will keine einsame Insel für Aussteiger sein. Es ist jedoch nicht einfach, ein Teil von Schloss Tempelhof zu werden. Über jeden neuen Mitbewohner stimmt die Gemeinschaft in mehreren Stufen ab. Damit jemand einziehen kann, müssen alle zustimmen. Jeder „Neu-Tempelhofer“ muss sich in einem Probejahr bewähren – und für sich selbst sorgen können. Zu Beginn fällt ein Genossenschaftsbeitrag von 30.000 Euro an.

Alternative Konsumformen

Vielmehr ist es ein Dorf-Projekt, in dem die Bewohner zukunftsweisende Formen des Zusammenlebens testen: ökonomisch, ökologisch und sozial. Die Ziele von Tempelhof: mehr Miteinander und „Wir“, weniger Materielles. Kein Guru hat das Sagen. Stattdessen gilt das „All-leaders-Prinzip“. Jeder trägt Verantwortung für sich und die anderen. Ein wenig erinnert es an einen schwäbischen Kibbuz. Entscheidung über die Zukunft der Gemeinschaft treffen alle gemeinsam, basisdemokratisch.

Viele der Bewohner setzen sich mit alternativen Geldsystemen wie dem Grundeinkommen sowie neuen Energiequellen auseinander. Die Tempelhofer beschränken sich auf wenige Quadratmeter eigenen Wohnraum. Den meisten Platz teilt die Gemeinschaft. Die „Großfamilie“ isst in der Dorfkantine, trifft sich im Café oder in den Werkstätten.

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Im Schlosscafé geht es gemütlich zu. (Foto: Schloss Tempelhof)

Derzeit arbeitet eine internationale Truppe an Deutschlands erstem Earthship: In dem teilautarken Haus aus Altreifen und Glas sollen künftig 25 Menschen wohnen. Photovoltaik erzeugt die nötige Energie, das begrünte Dach dient als Sammelbecken für Regenwasser.

Die Tempelhofer sind Selbstversorger, kümmern sich um eine Ziegenherde, Hühner und Wollschweine, bestellen Äcker und Streuobstwiesen, pflanzen Gemüse im Gewächshaus – das meiste für den Eigenbedarf. Einige der Bewohner sind Vollzeit in der Imkerei oder Käserei beschäftigt.

Doch längst nicht alle ernährt der Hof. Die meisten der Bewohner arbeiten außerhalb des Dorfes. Jeder Erwachsene übernimmt im Monat zwanzig Gemeinschaftsstunden, hilft im Waldkindergarten, spült in der Dorfkantine oder mistet den Ziegenstall aus. Das sind Pflichten, die offenbar nicht abschrecken: Es gibt weitaus mehr Interessierte als freie Plätze im Schloss Tempelhof.

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