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ProNicht nur theoretisch möglich

Von May Blank / 31. März 2017
picture alliance / dpa | Jonas Güttler

Auch wenn es nicht ganz einfach ist, inklusive Klassen zu unterrichten: Wir brauchen mehr Integrationsschulen und bessere Rahmenbedingungen.

Jeder Lehrer kennt dieses Gefühl. Du stehst vor einer Klasse, 30 SchülerInnen wenn du Pech hast, und willst irgendetwas erklären. Aber es gibt da zwei, drei Teenager, die mischen die ganze Gruppe auf. Spielen mit ihren Handys, reden dazwischen, verweigern die Mitarbeit. Wie soll man sich gleichzeitig diesen SchülerInnen widmen, aber den anderen 27 noch genügend Aufmerksamkeit schenken und dabei die Modalverben erklären? In solchen Situationen kann einem der Glauben an individuelle Förderung schnell abhanden kommen. Viele Lehrer, die ich kenne, sagen daher: Inklusion ist in der Theorie ein schöner Gedanke, aber in der Praxis kaum umsetzbar. „Stell dir vor, in deiner 30-Schüler-Klasse gibt es noch ein hyperaktives Mädchen oder einen Jungen mit Dyslexie. Wie in Himmelsnamen soll man das bewerkstelligen?“

Nicht leicht aber notwendig

Inklusion ist eine große Herausforderung für Lehrer, Schüler und Politik. Nur zu schnell geht ein Schüler mit Förderbedarf unter, wird (s)ein Talent nicht entdeckt. Dennoch bin ich davon überzeugt: Wir brauchen inklusive Schulen mit einer besseren individuelle Betreuung unserer SchülerInnen.

Ich habe Deutsch als Fremdsprache studiert und arbeite seit September 2016 an einer Schule in den Niederlanden als Assistenzlehrerin. Die niederländische Regierung unterzeichnete 2011 die UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – drei Jahre nach Deutschland. Erst 2016 wurde die Konvention vom niederländischen Bundesrat als letztem EU-Parlament ratifiziert. Aus Kostengründen sperrte man sich lange Zeit dagegen. Mit der Konvention verpflichten sich die Vertragsstaaten unter anderem, Menschen mit Behinderungen nicht vom allgemeinen Bildungssystem – sei es der Grundschule oder der weiterführenden Schule – auszuschließen. Denn: Jedes Kind hat das gleiche Recht auf Bildung.

Auch in Deutschland war dieser Gedanke ein treibender Motor hinter der Inklusionsbewegung. In den Niederlanden ist die Eingliederung von Jugendlichen mit Behinderung an allgemeinbildenden Schulen noch nicht flächendeckend umgesetzt. Laut der Niederländischen Stiftung für Kinder mit Handicap (NSGK) besuchen in den Niederlanden beinahe alle Kinder mit einer Behinderung gesonderte Schulen.

Doch was heißt hier überhaupt behindert? 17 Prozent der 16- bis 35-jährigen Niederländer haben nach Angaben der Deutschen Internationalen Jugendarbeit eine leichte bis gravierende Behinderung, überdurchschnittlich viel im europäischen Vergleich. Gemäß der Definition des Niederländischen Gesundheitsministeriums gelten Kinder und Jugendliche als behindert, wenn eine mentale Retardierung vorliegt, sie eine Seh- oder Hörbehinderung haben oder körperlich beeinträchtigt sind. Aber auch Sprachentwicklungsstörungen, chronische Krankheiten wie Multiple Sklerose oder psychische Erkrankungen wie Autismus fallen unter diese Definition. Es gibt in den Niederlanden also relativ viele Kinder und Jugendliche mit Behinderung, die relativ oft nicht an den Regelschulen aufgefangen werden.

Individuelles Lernen ist möglich

In diesem eher inklusionsfeindlichen Kontext arbeite ich an einer Montessorischule, die sich dem Prinzip „Eine Schule für alle“ verpflichtet hat. Bei uns gehen Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten in dieselbe Schule, in einem durchlässigen System, in gemeinsamen Gebäuden. In der siebten und achten Klasse werden alle Kinder gemeinsam unterrichtet, erst in der neunten Klasse gibt es eine Teilung der Klassen. Wir haben aber auch Realschüler, die zum Beispiel deutsche Eltern haben und dadurch sehr gut im Deutschunterricht sind. Die besuchen dann einfach den Unterricht in einer höheren Gymnasialklasse. Alles kein Problem!

Schüler mit Beeinträchtigung werden so gut wie möglich in die Klassen integriert. Das regelt eine Betreuungskoordinatorin an jedem Standort, die mit Kind und Eltern einen individuellen Stundenplan und ein Betreuungsangebot zusammenstellt. Wir haben zum Beispiel sehr viele Kinder mit Dyslexie, die Hilfe brauchen, um das Gelesene zu verstehen. Bei Examen bekommen diese SchülerInnen mehr Zeit, oder dürfen Leseaufgaben mit einem Vorleseprogramm am Computer bearbeiten. Einer meiner Schüler hat Autismus. Er bekommt statt des Deutschunterrichts eine Hausaufgabenbetreuung. Für Kinder, die im Rollstuhl sitzen, gibt es Einzelbetreuer und sowieso Barrierefreiheit durch einen Lift. Von dieser flexiblen Struktur und dem auf das einzelne Kind zugeschnittenen Förderplan können andere Schulen viel lernen, auch in Deutschland.

Der Schritt von der Theorie in die Praxis

Trotzdem ist die Arbeit im Klassenzimmer nicht unbedingt leichter. Neulich fragte ich einen Kollegen, wie er damit umgeht, wenn SchülerInnen immer wieder den Unterricht stören. „Einfach rausschmeißen“, sagte er, „dann können wenigstens die anderen lernen“. Ich kann das nachvollziehen, aber damit findet die Ausgrenzung von Menschen mit Förderbedarf aus der Gemeinschaft doch statt. Nur subtiler als durch eine getrennte Beschulung. Hinzu kommen standardisierte Abschlussprüfungen. Wer immerzu aus der Klasse fliegt, muss schlechtere Resultate erwarten. Nur mit gut ausgebildeten Lehrern und Sozialpädagogen, kleineren Klassen und nicht-standardisierten Testverfahren schaffen wir die Umsetzung des gemeinsamen Lernens.

Der Schritt von der Theorie in die Praxis hängt genau von diesen Rahmenbedingungen ab. Wenn Kinder mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen in einen Raum gesetzt werden und Lehrer, die überhaupt nicht dafür ausgebildet sind, zu große Klassen managen müssen, dann hat das nichts mit Inklusion zu tun, sondern mit Personalmangel und Unterfinanzierung im Bildungsbereich.

Aber was ist die Alternative? Dass Kindern schon im Alter von sechs Jahren die Chancengleichheit abgesprochen wird? Dass behinderte oder beeinträchtigte Menschen schon im Schulalter sozial und gesellschaftlich isoliert werden? Diverse Studien haben gezeigt, dass Kinder in Inklusionsklassen in Vergleichstests besser abschneiden als Schüler an Förderschulen und prozentual öfter einen Schulabschlüsse erreichen. Auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt steigen.

So schwer die Umsetzung von umfassender Inklusion auch sein mag, wenn die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen kein Lippenbekenntnis ist, dann müssen wir uns ihr stellen; Schüler, Eltern, Politiker und Lehrer.

 

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