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Gebremste ungarische EUphorie

Von Vera Kern / 9. September 2014
picture alliance / Zoonar | gd ae

Zehn Jahre nach dem EU-Beitritt kommen aus Ungarn vor allem Negativschlagzeilen rund um fragwürdige Gesetze und rechtspopulistische Rhetorik. Ist die Demokratie in Gefahr? An manchen Tagen zweifelt Márton Vízkelety an der Zukunft seines Heimatlandes Ungarn. „Ich kann durchaus verstehen, dass so viele junge Leute auswandern“, sagt der 31-jährige Kameramann. Auch er hat schon mit dem […]

Zehn Jahre nach dem EU-Beitritt kommen aus Ungarn vor allem Negativschlagzeilen rund um fragwürdige Gesetze und rechtspopulistische Rhetorik. Ist die Demokratie in Gefahr?

An manchen Tagen zweifelt Márton Vízkelety an der Zukunft seines Heimatlandes Ungarn. „Ich kann durchaus verstehen, dass so viele junge Leute auswandern“, sagt der 31-jährige Kameramann. Auch er hat schon mit dem Gedanken gespielt, Ungarn den Rücken zu kehren und von Budapest nach Berlin zu ziehen. „Ich bin mit vielen Entwicklungen hier nicht einverstanden“, sagt er.

Ralf Göllner (Foto: privat)
Ralf Göllner (Foto: privat)

Ungarn als Brücke zwischen Ost und West

Dabei hatte alles so gut angefangen. Ungarn galt für viele Politologen unter den Neuzugängen der EU-Osterweiterung als Musterland für demokratischen Fortschritt. Die Mehrheit der Ungaren stimmte beim Referendum 2004 für den EU-Beitritt. „Ungarn hat sich stets als Brücke zwischen West und Ost verstanden“, sagt Ralf Thomas Göllner vom Ungarischen Institut der Universität Regensburg.

Viele Ungaren hätten das Gefühl gehabt, endlich dort anzukommen, wo sie längst hingehörten: nach Europa. Zur Erinnerung: Es waren Ungarns Westgrenzen, die für die DDR-Flüchtlinge geöffnet wurden – dieses Ereignis gilt als ein Auslöser für den Fall des Eisernen Vorhangs.

„Die meisten Ungaren sehen, dass die Mitgliedschaft in der EU zahlreiche Vorteile bringt“, so Ungarn-Experte Göllner. Auch Márton Vízkelety profitiert davon: Dank Reisefreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit kann er problemlos im europäischen Ausland als Kameramann arbeiten.

Die Gelder aus EU-Fördertöpfen sind an vielen Ecken in Ungarn sichtbar. „Straßen und Plätze wurden renoviert. Die Lebensqualität ist insgesamt gestiegen“, findet Vízkelety.

Europafeindliche Parolen populär

So überzeugt von Europa sind jedoch nicht alle Ungaren. Zehn Jahre nach dem EU-Beitritt, im April 2014, gewann die offen europafeindliche Partei Jobbik bei den ungarischen Parlamentswahlen mehr als 20 Prozent der Stimmen. Viktor Orbán konnte erneut mit seinen rechtspopulistischen Parolen punkten und wurde zum zweiten Mal in Folge zum Ministerpräsidenten gewählt. Bereits bei den Parlamentswahlen 2010 erhielt Orbán mit seinem nationalkonservativen Fidesz-KDNP-Bündnis die Mehrheit der Stimmen.

Seither hat seine Regierung mit einer starken Zweidrittelmehrheit eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die vielen Europapolitikern Sorgen bereiten. Grundgesetzänderungen beschneiden teilweise die Befugnisse der Verfassungsrichter, neue Mediengesetze schränken die Pressefreiheit ein, eine Reform des Wahlrechts verhielf Orbán zur Mehrheit. Mit mehr als 800 Gesetzen sichert sich Orbán seine Macht – und die wachsende Skepsis vieler Beobachter, die fürchten, Ungarn könne mehr und mehr in ein undemokratisches System abdriften.

András Hettyey, Politikwissenschaftler an der Andrássy Universität in Budapest (Foto: privat)
András Hettyey, Politikwissenschaftler an der Andrássy Universität in Budapest (Foto: privat)

Wie ist diese Entwicklung zu erklären? András Hettyey, Politikwissenschaftler an der Andrássy Universität in Budapest, sieht den Hauptgrund bei der linken Vorgängerregierung von 2002 bis 2010. Die hatte Ungarns Politik in Misswirtschaft, Korruption und hohe Verschuldung verstrickt.

„Die außergewöhnlich hohe Zustimmung, die Fidesz-KDNP 2010 erhielt, war das Ergebnis der großen Enttäuschung in der Bevölkerung“, meint auch Ralf Thomas Göllner. Der Rechtspopulismus treffe nun den Nerv vieler Ungaren. Die hohe Arbeitslosigkeit trage in bestimmten Milieus ihren Teil dazu bei. Auf die rechtsextreme Partei Jobbik setzten vor allem „ökonomisch Enttäuschte“ ihre Hoffnungen, so Göllner.

Demokratie in Gefahr?

Die ungarische Gesellschaft ist tief gespalten in linke und rechte Lager. „Es existiert keine demokratische Streitkultur – das ist ein grundlegendes Problem“, sagt Göllner. Wer sich nicht inhaltlich auseinandersetze, neige zu Extremen. Die aggressiven Worte und die Entschlossenheit der rechtskonservativen Regierung von Orbán kommen bei den Wählern gut an.

Zu seinem Erfolg trägt auch die schwache Linke bei. „Die Opposition hat sich selbst beschädigt, indem sie statt linker Positionen eine wirtschaftsliberale Politik verfolgt und sich im Vorwahlkampf durch Personalquerelen selbst demontiert hat“, sagt Göllner.

Ist die Demokratie in Ungarn also gefährdet, wie viele Europapolitiker fürchten? András Hettyey teilt diese Sorge nicht: „Diese Gefahr wird in der ausländischen Presse übertrieben dargestellt.“ Ungarn bleibe eine Demokratie. Nach 40 Jahren Kommunismus sei die Zivilgesellschaft jedoch noch relativ schwach.

Auch Ralf Thomas Göllner hält Ungarn nicht für das Sorgenkind der EU. „Der Rechtsstaat und die Gewaltenteilung sind fest verankert und die Institutionen funktionieren, auch wenn man über einzelne Bestimmungen durchaus noch diskutieren kann.“

Kameramann Márton Vízkelety meint: „Manches ist nicht ideal, aber vielleicht ist das unser Weg, Demokratie in Ungarn zu erlernen.“ Er hofft, dass sein Land die Lektion eines Tages verstehen wird und er nicht wie viele andere gut ausgebildete Altersgenossen irgendwann doch noch auswandern muss.

Eine Antwort zu “Gebremste ungarische EUphorie”

  1. Von Damals am 10. September 2014

    Es ist echt unglaublich, noch vor 20 Jahren konnte ich mit meiner Freundin als Frauenpaar Hand in Hand durch Budapest schlendern und bekam weniger Anfeindungen und blöde Blicke als damals in Nürnberg. Ungarn war sehr fortschrittlich und liberal. Schade drum! Hoffentlich bleiben alle im Land und rebellieren, statt auszuwandern!

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