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ProVom ziellosen Zapper zum unabhängigen Programmdirektor

Von Isabel Stettin / 4. Dezember 2014
picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Patrick Pleul

Das lineare Fernsehen ist überholt. Streamingdienste und Videoplattformen bieten immer mehr Bewegtbild in immer mehr Formen. Die Zukunft des Fernsehens ist flexibel, mobil und individuell.

Das lineare Fernsehen ist überholt. Streamingdienste und Videoplattformen bieten immer mehr Bewegtbild in immer mehr Formen. Die Zukunft des Fernsehens ist flexibel, mobil und individuell.

Fernsehen strukturiert unseren Alltag, beeinflusst die Meinungsbildung und dominiert die öffentliche Kommunikation. Fernsehen ist ein Leitmedium. Doch der Fernsehmarkt in Deutschland ist im Umbruch.

Timm Hoffmann, Bereichsleiter Consumer Electronics & Digital Media beim Verband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche Bitkom. (Foto: Bitkom)
Timm Hoffmann, Bereichsleiter Consumer Electronics & Digital Media beim Verband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche Bitkom. (Foto: Bitkom)

Der Charakter des Fernsehens, seine Funktion und die Erwartungen an das Medium verändern sich. „Video-on-Demand hat einen Paradigmenwechsel eingeleitet“, sagt Timm Hoffmann, Bereichsleiter Consumer Electronics & Digital Media beim Verband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche Bitkom. Es sei ein Wandel vom „Jetzt muss ich vor dem Fernseher sitzen“ hin zu „Ich entscheide, wann und wo ich Filme, Serien oder Nachrichten sehe“.

Klassisches Fernsehen ist nicht mehr zeitgemäß

Punkt acht Uhr vor dem Fernseher sitzen, um die Tagesschau nicht zu verpassen: Das ist für immer mehr Zuschauer zu starr und nicht zeitgemäß. „Videostreaming macht es möglich, ganz auf lineares Fernsehen zu verzichten und mit den Millionen von Onlinevideos ein individuelles Programm zu gestalten. Jeder kann also sein eigener Programmdirektor sein“, sagt Hoffmann.

Laut einer Bitkom-Studie von 2014 stimmen sechs von zehn Streaming-Nutzern der Aussage zu, dass sie sich grundsätzlich nicht unter Zeitdruck setzen, um zu bestimmten Sendungen rechtzeitig einzuschalten. „Das klassische Fernsehen im Sinne der linearen Verbreitung verliert besonders bei unter 30-Jährigen rapide an Bedeutung“, sagt Hoffmann. „Ihr durchschnittlicher Fernsehkonsum sinkt jedes Jahr. Im Gegenzug nutzen sie Streaming-Angebote häufiger.“

Individuell, mobil, zeitversetzt

Medienwissenschaftler Prof. Dr. Olaf Jandura. (Foto: privat)
Medienwissenschaftler Prof. Dr. Olaf Jandura. (Foto: privat)

Der Medienwissenschaftler Olaf Jandura befasst sich mit dem Erfolg zeitversetzter Fernsehnutzung im Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung. „Die Möglichkeiten der Individualisierung der Mediennutzung erweitern sich stetig“, sagt der Professor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. „Für immer mehr Deutsche passt der Tagesablauf nicht mehr zu einem zeitlich strukturierten Programmschema. Daher ist es funktional, zu schauen, was wir wollen und wann wir wollen.“ Statt ziellos herum zu zappen und unsere Zeit zu verschwenden, können wir unser eigenes Programm perfektionieren.

Diese Flexibilität der Zuschauer kann als Gewinn, aber auch als Bedrohung wahrgenommen werden. Jandura: „Die Frage ist: Was macht das mit uns und unserer Gesellschaft?“ Viele Zuschauer fahren „Unterhaltungsslalom“, sagt Jandura, das heißt, sie ziehen reine Unterhaltung Nachrichtensendungen oder politischen Talkshows vor.

Bleiben Zuschauer beim klassisch linearen Fernsehen zumindest kurz oder in Ermangelung an Alternativen bei den Nachrichten hängen, bieten Video-on-Demand-Anbieter Watchever, Netflix oder MyVideo reine Unterhaltung, maßgeschneidert und selbst zusammengestellt. So ist es noch leichter, sich informativen, etwa politischen Inhalten zu entziehen – mit dem entsprechenden Risiko, eine „dümmere“ Gesellschaft zu kreieren. Doch das ist natürlich nur die eine Seite der Medaille.

Die aktuelle Diskussion zur Zukunft des Fernsehens erinnert Olaf Jandura an die Sorgen vor der Umstellung auf das duale Rundfunksystem. „Erst gab es ARD und ZDF, nach der Privatisierung RTL, SAT.1, dann Tele 5. Das Angebot ist über die Jahre immer mehr gewachsen“, sagt Jandura. Im Durchschnitt stünden inzwischen jedem Haushalt in Deutschland rund 80 Kanäle zur Verfügung. „Bei Haushalten mit digitalem Satellitenempfang kann die Zahl der Fernsehsender weit höher liegen. Um die 1000 Angebote sind da möglich.“

Das Ende der Öffentlich-Rechtlichen bedeutete diese Umstellung nicht. Ebenso wenig sollte uns deshalb die Entwicklung hin zu Online-Diensten Angst machen. Denn diese Entwicklung bietet viel: Neben der freien Wahl aus einem vielfältigen, umfangreichen Angebot werden auch unsere Mobilitätswünsche berücksichtigt.

Blogger und Video-Experte Bertram Gugel. (Foto: Annette Koroll)
Blogger und Video-Experte Bertram Gugel. (Foto: Annette Koroll)

PC, Laptop, Tablet, Smartphone: „Die Plattform überlässt mir die Auswahl und die Inhalte sind auf sämtlichen Geräten verfügbar. Mir bleibt ein größerer Freiraum und mehr Einfluss darauf, was ich sehe“, sagt Blogger und Video-Experte Bertram Gugel.

74 Prozent der Internetuser schauen inzwischen Bewegtbildinhalte im Netz. Der ARD/ZDF-Onlinestudie 2014 zufolge ergibt sich eine Fernsehnutzung über das Internet, linear oder zeitversetzt, von täglich acht Minuten. Noch dominiert der klassische Verbreitungsweg über das TV-Gerät: Die Sehdauer beträgt im Schnitt 237 Minuten pro Tag.

„Wir befinden uns noch ganz am Anfang einer sehr spannenden Entwicklung“, sagt Gugel. „Es ist keine neue Ära, aber ein neues Kapitel.“ An den Inhalten an sich gibt es bislang nur geringe Anpassungen. Die gängigen Streamingdienste zeigen meistens nicht mehr als die frei empfangbaren Sender. Video-on-Demand-Plattformen konzentrieren sich auf Unterhaltungsformate. „Doch auch sie brauchen einen Programm-Mix“, meint Gugel.

Online vor allem Unterhaltung

Vor allem Serien funktionieren laut Gugel „on demand“ sehr gut. Sportliche Großereignisse hingegen werden vor allem immer noch an den herkömmlichen Fernsehgeräten geschaut. Dann ist Fernsehen wieder eine soziale Praxis, die die Massen vereint, und kreiert den sogenannten Lagerfeuer-Effekt. Auch Nachrichten sowie aktuelle und tiefergehende Informationen über Kultur und Politik werden vor allem analog geschaut. Aber die Onliner kommen. Netflix beispielsweise hat bereits damit begonnen, Dokumentationen zu finanzieren und Talkshows zu konzipieren.

Dem herkömmlichen Fernsehen bleibt nichts anderes übrig, als sich diesem Wettbewerb zu stellen. Im Idealfall sorgt der Wettbewerb künftig für einen Zuwachs an Qualität und Inhalt. Langfristig können sich auf dem Markt nur diejenigen behaupten, die den steigenden Anforderungen der Rezipienten gerecht werden. Denn wir haben die Wahl.



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