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“Wir sind keine Hamster im Käfig”

Von Sebastian Krieger / 27. Januar 2017
picture alliance / Bildagentur-online/Joko | Bildagentur-online/Joko

Wehrhaftigkeit – ein sperriger Begriff, der als „wehrhafte Demokratie“ gerade Konjunktur in der öffentlichen Diskussion hat. Die Schülerinnen und Schüler einer zehnten Klasse in Gelsenkirchen haben eine genaue Vorstellung davon, wie eine solche Gesellschaft aussehen sollte.

Kurz vor acht an einem Gymnasium. Politikunterricht, 10. Klasse. Kai Loebbert, Mitte 40, möchte seinen Schülern an diesem Morgen das Thema Wehrhaftigkeit näherbringen. Der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund beträgt über 50 Prozent – also deutlich mehr als etwa an einem Mädchengymnasium in Münster.

Loebbert schreibt „wehrhafte Demokratie“ an die Tafel. Dieser Begriff ist zuletzt häufiger in politischen Debatten aufgetaucht. Oft benutzen ihn Politiker, um zu erklären, wie und wann sich eine Gesellschaft verteidigen sollte. Doch was verstehen Jugendliche darunter? Sie sind es, die diese Gesellschaft in Zukunft prägen werden.

„Da steckt ‚wehr‘ drin, also hat er vielleicht etwas mit Militär und Wehrpflicht zu tun“, vermutet Lukas*. „Wehrhaftigkeit ist eine Verpflichtung“, sagt Lisa. Mohammed schlägt vor: „In der Lage sein, sich zu verteidigen, zu wehren.“ So definiert auch der Duden den Begriff. „Was bedeutet es, wenn man sagt, dass eine Demokratie wehrhaft ist?“, fragt Lehrer Loebbert. „Dass das Volk durchsetzt, was das Volk will“, sagt eine Schülerin. „Dass sich die Demokratie vor Parteien oder Personen schützt, die die alleinige Macht haben“, meint ein anderer.

Wehrhaftigkeit ist im Grundgesetz verankert. In Artikel 20 steht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ und „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Dieser Artikel ist in besonderer Weise geschützt: Laut Artikel 79 GG dürfen Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) und Artikel 20 nicht geändert werden.

Der scheidende Bundespräsident Joachim Gauck hat in seiner Abschiedsrede Mitte Januar die Wichtigkeit einer wehrhaften Demokratie betont. Loebbert teilt seiner Klasse eine gekürzte Fassung der Rede aus. Gauck sieht die Demokratie bedroht von Strömungen, die sich ins Nationale wenden, das Fremde ablehnen und das „sogenannte System“ attackieren. Zwar fordert er dazu auf, nicht gleich jede unbequeme Meinung als populistisch abzutun. Dennoch gebe es Kernbereiche des Grundgesetzes, die – aus der historischen Erfahrung heraus – geschützt werden müssten. Wie sehen das die Schüler?

Zufrieden mit der Demokratie

Laut einer Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2015 sind denn auch die meisten Jugendlichen ziemlich zufrieden mit der Staatsform in Deutschland. Diese halten 85 % unter ihnen, 87 % in den westlichen und 74 % in den östlichen Bundesländern, für eine gute Staatsform. Dazu gehört auch eine hohe Zustimmung mit den zentralen Demokratienormen. Vor allem die Meinungsfreiheit, das Recht zu wählen sowie die Möglichkeit, über Entscheidungen abstimmen zu können, spielen eine Rolle.

„Die neue deutsche Demokratie sollte nicht schwach, sondern wehrhaft sein. Sie sollte – so sagte es Carlo Schmid, einer der großen Politiker der Nachkriegszeit – ‚auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen‘.“

Die Schülerklasse diskutiert die verschiedenen Aussagen Gaucks. Intoleranz in einer Demokratie – das klingt widersprüchlich. Gerade die Meinungsfreiheit unterscheide die Demokratie von einer Diktatur, gibt Schülerin Alicia zu bedenken. Und Meinungsfreiheit überschneide sich an vielen Stellen mit Toleranz. „Nun soll ausgerechnet Intoleranz ein Mittel der Demokratie sein, sich gegen ihre Feinde zu verteidigen?“

Wehrhaft auch ohne Mauer und Parteiverbote

Gauck fordert in seiner Rede auch eine Ausweitung der Sicherheitsvorkehrungen im Land. Zwar ginge dieses Vorgehen zu Lasten der Freiheitsrechte, aber der Rechtsstaat verliere, wenn er sich im Kampf gegen Gewalt und Terror als zu schwach oder gar hilflos erweist. Mehr Sicherheit also gefährde die Demokratie nicht, so das Credo.Vielmehr brauche man sie zu ihrem eigenen Schutz.

Freiheit gegen Sicherheit – das könne man kaum gegeneinander abwägen, finden dagegen die Gymnasiasten, die nie Krieg miterlebt haben. „Demokratie steht und fällt mit dem Volk. Und das fällt da, wo die Freiheit eingeschränkt wird“, sagt Lukas. Mohammed rechnet: „50 Prozent Sicherheit und 50 Prozent Freiheit wären gut.“ Sicherheitsmaßnahmen könnten viele Straftaten verhindern. „Eigentlich wäre 100-prozentige Sicherheit das Beste, aber moralisch geht das nicht“, sagt Hassan. „Wenn man sagt, dass ab 22 Uhr niemand mehr vor die Tür darf, dann ist das vielleicht sicher. Aber wir sind keine Hamster im Käfig.“

Mauern wie jene, die der US-amerikanische Präsident Donald Trump an der Grenze zu Mexiko errichten will, trügen nicht zur Wehrhaftigkeit eines Staates bei, sind sich die Jugendlichen einig. „Das ist wahnwitzig“, nennt ein Schüler das Vorhaben und verdreht die Augen.

Auch demokratiefeindliche Parteien sollten nicht gleich verboten werden, meinen die Gelsenkirchener Gymnasiasten. Schon gar nicht in Deutschland. Denn die deutsche Demokratie, so die einhellige Meinung, sei durch sie nicht unmittelbar bedroht und außerdem wehrhaft genug.

* alle Namen von der Redaktion geändert

 

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