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Ein wahrhaft elitärer Club

Von Madlen Schäfer / 6. Dezember 2017
picture alliance / Westend61 | Westend61 / Uwe Umstätter

Zwei Weltkriege, mehrere Währungsreformen und verschiedene Staatsformen: Die Mitglieder des Clubs der Hundertjährigen in Berlin haben viel erlebt – und viel zu erzählen.

„Wird Ihnen nicht himmelangst, wenn Sie die ganzen Alten sehen?“, fragt Hildegard Genschow, deren Haare lang und weiß auf ihre Schultern fallen. Der 58-jährige Oliver Stemmann von den Alloheim Seniorenresidenzen schüttelt den Kopf: „Nein, älter werden wir alle.“ So alt allerdings wie die Mitglieder des Clubs der Hundertjährigen werden nur wenige. Vor drei Jahren riefen zehn Hundertjährige aus Berliner Senioreneinrichtungen gemeinsam mit Stemmann den Club ins Leben. „Wir wollten den Senioren helfen. Sie zusammenbringen, damit sie sich austauschen und über alte Zeiten sprechen können“, sagt Stemmann. Drei bis vier Mal im Jahr treffen sich die Mitglieder, immer in einer anderen Berliner Seniorenresidenz.

An diesem Vormittag gibt sich der Club in der Seniorenresidenz Lichterfelde die Ehre. An einer langen, mit weißem Tischtuch gedeckten Tafel sitzen vier Seniorinnen gemeinsam mit ihren Betreuern. Neben Kaffee und Kuchen steht auch eine Flasche Sekt auf dem Tisch.

„Geben Sie mir einen Schluck. Das ist besser als das andere“, sagt Hildegard Genschow und zeigt auf die Sektflasche vor ihr. Den hätte sie schon immer gerne getrunken, erzählt sie. Wie alt Genschow ist, weiß sie nicht zu sagen. Eine Urkunde, die sie heute vom Club erhalten hat, verrät das Geburtsdatum der Dame: 18. Februar 1916. Als sie ihr Alter hört, staunt sie. „Dann bin ich schon 101?“, fragt sie. „In Kopfrechnen war ich immer schwach“, schiebt sie lächelnd hinterher.

Mit einem Gläschen Sekt stoßen die Rentnerinnen „auf das kostbare Alter“ an. Obwohl es ihr hohes Alter ist, das sie zusammengeführt hat, scheint es die Rentnerinnen nicht sonderlich zu beschäftigen. Wie alt sie ist, weiß auch Elisabeth Lindow nicht. „Da denke ich überhaupt nicht dran“, sagt die 98-Jährige, die sich den Club schon einmal vor dem offiziellen Beitritt anschauen möchte.

17.000 sind in Deutschland „Ü-100“

Ein Gründungsmitglied des Clubs ist in diesem Sommer im staatlichen Alter von 104 Jahren verstorben. Der Tod – das lässt sich kaum leugnen – ist die einzige Konstante hier. „Die Mitglieder wechseln ständig. Es kommen neue Mitglieder, andere sterben“, erklärt Stemmann. Die Geschichten der Hundertjährigen faszinieren ihn. „Sie können über den Ersten Weltkrieg sprechen, den niemand sonst mehr erlebt hat, oder haben die Inflation in der Weimarer Republik und die Veränderungen von Geldsystemen mitbekommen“, sagt Stemmann. Vor allem habe er durch die Gespräche mit den Hundertjährigen gelernt, die Dinge immer positiv zu sehen: „Aus Krisen wieder hochzukommen, das kann einen am Leben erhalten. Wir vergessen manchmal auch, wertzuschätzen, dass wir hier bereits seit 70 Jahren Frieden haben.“

Rund 17.000 Menschen sind in Deutschland 100 Jahre oder älter. Die meisten von ihnen – rund 1.000 – leben in der Hauptstadt. 90 Prozent der Hundertjährigen sind laut einer Analyse der Krankenkasse AOK Frauen. Das spiegelt sich auch beim Treffen wider. Neben den Seniorinnen sitzt kein einziger Senior am Tisch.

Künftig wird es immer mehr Menschen geben, die 100 Jahre alt werden. Laut Erkenntnissen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung werden 28 Prozent der im Jahr 2017 neugeborenen Mädchen und sieben Prozent der neugeborenen Jungen 100 Jahre alt werden. Noch ist die Generation „Ü-100“ allerdings eine Seltenheit.

Nimmt ihr Alter nicht so wichtig, die Lokalzeitung umso mehr: Liese-Lotte Kuley. (Foto: Madlen Schäfer)

Was ist das Geheimnis ihres langen Lebens? „Man muss immer in Bewegung bleiben. Ich habe immer gearbeitet, bin kein Mensch für Krankheiten und brauche Beschäftigung. Soll ich etwa die ganze Zeit im Bett rumliegen?“, fragt Liese-Lotte Kuley. Jeden Morgen liest sie die Lokalzeitung, nimmt an Aktivitäten des Seniorenheims teil: Gymnastik oder Bingo. Auch für Kartoffelschälen ist sie sich nicht zu schade. Schön sind vor allem die Besuche von ihren drei Enkeln und sieben Urenkeln. „Sie macht manchmal mehr als wir alle zusammen“, sagt ihre Pflegerin. Weil Kuley so gerne strickt, hat sie bereits für alle im Heim Socken gestrickt. „Die Wolle müssen die aber selbst liefern“, erklärt sie. Jüngeren Menschen empfiehlt sie: „Nimm das Leben so, wie es kommt.“

„Den Humor habe ich mit 90 hochgeholt“

Ihre 101 Lebensjahre verdanke Hildegard Genschow nicht ihrem gesunden Lebensstil, glaubt sie. Sie sei nach alter Weise erzogen, also „falsch ernährt“ worden – mit viel Fett. Genschow redet viel und unterhält den ganzen Tisch. „Den Humor habe ich mit 90 hochgeholt“, scherzt sie. Als „waschechte Berlinerin“ sei es ihr schon immer schwergefallen, den Mund zu halten. Am liebsten berichtet sie von ihren Reisen in die Schweiz und in die Vereinigten Staaten von Amerika. Dorthin sind ihre Kinder ausgewandert. Ihrem jüngeren Ich würde Genschow raten, mehr zu überlegen. „Aber wer ist schon vernünftig, wenn er den Kopf voller Flausen hat?“, fragt sie und lächelt milde.

100 Jahre kann man schonmal feiern: Hildegard Genschow. (Foto: Madlen Schäfer)

Trotz ihrer langen Lebenszeit hat Genschow noch Träume. „Wenn ich könnte, würde ich nach Amerika reisen“, sagt sie. Liese-Lotte Kuley dagegen scheint wunschlos glücklich. „Jetzt habe ich nichts mehr vor. Ich habe genug gelebt, es reicht.“

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